Durch Wald und über Erz
3. September 2019, 2. Etappe: von Falkenau nach Oberschöna.
Impressionen und Reflexionen von Ulrich Grober
Zur Einstimmung auf Wandertag & Workshop: Kleine Meditation über das einsilbige Wort „WOW!“
Eigentlich ist „wow“ gar kein Wort, sondern ein eine Interjektion, ein Zwischenruf, Ausruf, manchmal sogar ein (Gefühls-) Ausbruch. „Wow“ bringt eine Empfindung spontan zum Ausdruck. In der Jugendsprache ist es seit einigen Jahren sehr präsent. Im Wortschatz der sozialen Medien gehört es zu den Top Ten. Seine Wurzeln freilich sind uralt. Sie liegen, so das wunderbare „online etymology dictionary“ der englischen Sprache im Altschottischen, einer Variante des Angelsächsischen. Dort sei es seit dem frühen 16. Jahrhundert nachweisbar. Als ein Ausdruck des intensiven Erstaunens und Staunen, des Respekts, der Bewunderung. Es signalisiere „überwältigendes Entzücken und Gefallen“ , schreibt Gerhard Trommer, der Wildnispädagoge, in seinem Buch „Niemandland“ (Seite 292 ff.). Etwas, was nur bei körperlicher, „leibhaftiger“ Anwesenheit, bei ungeteilter Präsenz im Hier und Jetzt entstehen kann. Etwas, das unverfügbar, nicht voraussehbar, nicht planbar ist. Ich plädiere dafür, das Erleben von „Wow“-Momenten zusammen mit dem „Flow“-Gefühl in die Philosophie des Wanderns zu integrieren. Beides sind, ja!, höhere Bewusstseinszustände. Bei letzterem geht es primär um das Erleben der Leichtigkeit des Seins, der Einheit von Innenwelt und Außenwelt, Geist und Natur bei der Bewältigung von Strapazen. In „wow“-Momenten spielt die geistige und spirituelle Erfahrung von Natur und Landschaft die größere Rolle. Meine These: „Wow“ und „Flow“-Momente sind die eigentlichen Ziele jeder Wanderung, nicht der Punkt Omega am Ende einer Strecke.
9:00 Aufbruch, Flöha-Falkenau, Gasthaus Falkenhöhe.
Wolkenloser, blassblauer Himmel, windstill, gefühlte 12 Grad. An den Bäumen Anzeichen früher Laubverfärbung. Folgen der langen Dürre? Vorboten des Herbstes? Tief unter uns ist die Biegung der Flöha zu sehen. Sie kommt vom Kamm des Erzgebirges, entspringt auf der tschechischen Seite, mündet nur ein paar Kilometer flussabwärts von hier beim Ort Flöha in die Zschopau. Gestern hatten wir sie auf der Brücke im Dorf überquert. Das Flussbett war überraschend breit, der Wolkenbruch des Wochenendes hatte es gut gefüllt. Sanfter Aufstieg auf die bewaldete Höhe nördlich des Tales. Ein Moment des Innehaltens, als der Wald uns aufnimmt, Einstimmung auf das, was vor uns liegt. Der Oederaner Wald bietet wechselnde Waldbilder. Mal undurchdringliche Fichtendickungen,, mal „Buchendom“, wo die Stämme auseinander stehen, aber die Wipfel ein geschlossenes Laubdach bilden. Viel Naturverjüngung, Stellen, wo die nächste Generation des Waldes von selbst aufschlägt und aufwächst. Stapel von gefälltem Holz, es riecht nach Harz.
Hier gab es früher Silberbergbau, erzählt Iris, unsere orts- und geschichtskundige Mitwanderin aus Falkenau. Ohne sie hätte niemand bemerkt, dass wir gerade buchstäblich „durch Wald und über Erz“ gehen. (Danke, Iris!). Nur einen kurzen Abstecher von unserem Weg liegt der „Zechengrund“. Dort werden gerade von einer lokalen Initiative die Wahrzeichen des historischen Bergbaus wieder freigelegt, der hier seit Mitte des 16. Jahrhunderts umging: Mundlöcher und Pingen, also die Relikte von verfallenen Stollen und Schächten, kleine Halden von taubem Gestein, Reste von einfachen Schmelzhütten. Die Gruben trugen Namen wie „Beschert Glück Stolln“, „Gabe Gottes Maßen“. Die Sprache enthüllt ein anderes Denken. Metalle waren damals noch keine „Ressourcen“, keine bloßen Waren, sondern „Gaben Gottes“. Am Vortag hatten wir ein Wahrzeichen dieser Zeit gesehen. An der Straße zur Brücke stand ein „Hunt“, eine Lore, vollbeladen mit Gesteinsbrocken. Die Aufschrift, verziert mit dem Schlägel & Eisen Symbol: „Silberbergbau Falkenau 1562 – 1842“.
9:50 Dreibörner Grund
Wir erreichen eine verwunschene Talsenke. Drei Quellen kommen an den Hängen zu Tage, drei Bachläufe fließen hier zusammen. Bange Frage: Fließen sie noch? Jetzt, am Ende dieser langen Trockenperiode. Unter der dichten Vegetation ist zunächst kein Bachlauf zu erkennen. Dann höre ich es rieseln, murmeln, plätschern. Wow. Das fließende Wasser wird im Grün. sichtbar. Ich beuge mich darüber, nehme einen Schluck. Gefühl der Erleichterung, doch gleich die bange Frage. Wie viele Dürren hält der Wasserspeicher Wald noch aus?
10:50 Aussichtspunkt nahe Carolinenhöhe
Wow! Wir kommen in die offene Landschaft. Der Waldweg wird zum Feldweg, Mit jedem Schritt ändert sich die Perspektive. Der Raum entsteht beim Gehen. Eine sanfte warme Brise streicht von Süden durch eine kurze Birkenallee. Ist das der viel besungene „böhmische Wind“? An dem Punkt mit der schönsten Aussicht steht – nicht zufällig, sondern von den Leuten hier sehr bewusst inszeniert – eine Ruhebank. Wir machen eine Schaurast. Der Himmel ist blau, die Sicht ist absolut klar. Der Blick schweift in die grenzenlose Ferne, weit über einen Flickenteppich aus Feldern, Hecken, Wiesen, Gehölzen. Vor uns die sanften Ausläufer des Erzgebirges und am Horizont, ganz tief im Süden, 50 Kilometer entfernt, sehen wir zum ersten Mal die Kammlinie des Erzgebirges mit seinen höchsten Bergen: Keilberg (Klinovec), 1244, Fichtelberg, 1215 Meter. In den Tälern liegen – unsichtbar – die berühmten Silberstädte der Renaissance wie Annaberg, Johanngeorgenstadt und St. Joachimsthal (Jachymov). Im Vordergrund dieses faszinierenden Panoramas aber, auf einem solitären Bergkegel, einem erloschenen Vulkan, thront ein Schloss: die Augustusburg. Ein quadratischer Prachtbau, eigentlich nur ein Jagd- und Lustschloss, erbaut, so erzählt uns Iris, vom sächsischen Kurfürsten August zwischen 1568 und 1572, vor 450 Jahren, also in der Blütezeit des Silberbergbaus. Im ganzen Erzgebirge und auch im Oederaner Wald, den wir gerade durchquert haben. Dann mein magische Erlebnis: Von der Bank aus, wo wir zusammen rasten, sehe ich eine Federwolke hoch über den Türmen des Schlosses segeln, und gleichzeitig hoch über den Feldern vor mir einen Rotmilan kreisen. WOW! Der Reiz des Flüchtigen und der Glanz des Beständigen treffen in einem kurzen Moment zusammen. Die Landschaft beginnt zu erzählen…
Erzählende Landschaft? Wie wird im Medium des Wanderns ein Natur- und Kulturraum zum Erlebnisraum? Wie trägt er sich in die eigene „mentale Landkarte“ ein? Unter welchen Umständen beginnt eine Landschaft, und zwar jede noch so unberühmte Landschaft, ihr Storytelling? Einen ersten Fingerzeig gibt uns der englische Wanderphilosoph Robert Mc Farlane: „Ich wandere gern mit Menschen, die die Gegend gut kennen. Dann brauche ich keine große Vorbereitung, ich muss nur zuhören und Fragen stellen.“ (Interview, SZ-Magazin, Heft 35/2018). Das lokale Wissen bietet vielfältige Anhaltspunkte. Ich brauche freilich auch die „große Erzählung“, die Narrative und die Historie, die authentisch von dem Raum handeln, den ich mir erwandern will.
Was erzählt dieser Raum? Eine große Geschichte! Sie spannt einen weiten Bogen: Vom Mittelalter zur Renaissance, als das Erzgebirge das große mitteleuropäische Eldorado war, kurz bevor Columbus die Neue Welt entdeckte und die spanischen Konquistadoren ihren blutigen Beutezug nach Gold und Silber begannen, und noch zwei Jahrhunderte später die Silbermünzen aus Joachimsthal, die „Thaler“ zum Vorbild des „Dollar“ wurden. Bis hin zu den Anfängen des Kalten Krieges, als die Sowjetunion aus dem Uran erzgebirgischer Minen ihre erste Atombombe bauten. Doch die Landschaft erzählt noch eine alternative Geschichte: Jedes neue „Berggeschrey“, also jede Boomzeit des erzgebirgischen Bergbaus, warf die Frage auf: Was machen wir da eigentlich? Wollen wir das? Dürfen wir das? Verhandelt wurde die Ächtung des Raubbaus. Es ist die Frage nach der jeweiligen Legitimität unseres Eingriffs in die Natur. Wo liegen die Grenzen? Welche Regeln sind nötig? Welcher Verhaltenskodex? Erst die von der Gesellschaft immer wieder neu verhandelten Selbstbeschränkungen verleihen unserem Eingriff in die Natur Legitimität. Aus diesem Einspruch gegen Raubbau und Verschwendung heraus entstand in dieser Region unser Begriff von „Nachhaltigkeit“, geprägt 1713 von dem in Chemnitz geborenen und in Freiberg tätigen Oberberghauptmann Carlowitz. Auf dieser Basis entstanden die Bergakademie Freiberg und die Forstakademie Tharandt – beide mit weltweiter Ausstrahlung. Die Region hat „Nachhaltigkeit“ in ihrer DNA. Das erschließt sich freilich nicht von selbst auf einer Wanderung. Ein Minimum an Vorwissen darüber – und an Neugier – gehört dazu, wenn man sich aufmacht, Land und Leute zu erkunden und zu verstehen.
12:30 Oederan, Stadtkirche
Den barocke Turm konnten wir schon von weitem sehen. Erster Eindruck beim Betreten des spätgotischen Kirchenschiffs: Es riecht nach Holz. Gestühl, Empore, Decke, Gebälk – alles aus Holz. Dann setzt die Orgel ein. Gebaut 1727 in Freiberg von Gottfried Silbermann, geboren 1683 im erzgebirgischen Frauenstein, tätig in der Silberstadt Freiberg, Zeitgenosse von Carlowitz, seine Werkstatt befand sich in derselben Gasse wie das Oberbergamt. Silbermanns Material: Holz von Eichen, Fichten, Eiben sowie Zinn und Blei. Rohstoffe aus der heimischen Region, wieder aus Wald & Erz. Wir haben das Glück, dass ein Virtuose das Instrument spielt. Jemand übt für ein bevorstehendes Silbermann-Orgel-Festival. Er bleibt unsichtbar. Musik von Bach? Pachelbel? Wir haben es nicht herausbekommen. Einfach nur sitzen, lauschen, schauen. Sonnenlicht fällt durch das farbige Glas der gotischen Fenster. Mein Blick kommt zur Ruhe auf dem Fenster nahe dem Portal. Draußen wiegt sich das Blattwerk einer alten Linde in der Brise. Die barocken Klangkaskaden im Kirchenraum, das von dem Grün gefilterte und bewegte frühherbstliche Licht der Sonne – wieder ein exquisiter Moment auf unserem Weg durch das Land. Unerwartet, unverhofft, unverfügbar.
15:30 Kirchbach
Das Dorf zieht sich scheinbar endlos am Bach entlang. Auf jeder Seite aufgereiht in gehörigem Abstand voneinander und an die 100 Meter oberhalb von Straße und Bach die Häuser. „Waldhufendorf“, sagt Iris, typisch für die Region. Die Hufe, das sind die Grundstücke, die sich mit Feldern und Grünland den Hang hinauf bis zum Waldrand ziehen. Wohnhaus, Scheune, Stall sind die Komponenten des Dreiseithofes. Wir sehen schmucke Häuser, Fachwerk und Putz, meist sorgfältig und traditionsbewusst renoviert. Keine Bausünden, keine Neubauten oder Gewerbegebiete. Bauerngärten, Streuobstwiesen, von Lattenzäunen begrenzt. Flecken Wildnis mit Schöllkraut, Storchenschnabel, Katzenminze, Kräutern. Kühe weiden, Schafe, Gänse. Ein Dorfweiher. Die Kirche von 1783 hat ein Schieferdach. „Das Dorf ist nicht von dieser Welt“, sagt jemand aus unserer Gruppe. Wir geraten in einen dörflichen Festakt. Die Brücke über den Bach ist mit neuen Anlagen zum Hochwasserschutz ausgerüstet worden. Bauzeit: zwei Jahre. Fördermittel kamen von der Stadt Oederan und aus anderen Töpfen. Der Bauunternehmer ist anwesend, kommt aus der Region. Heute ist Einweihung. Neben der Brücke Tische und Bänke für ein paar Dutzend Dorfbewohner. Dort gibt es – wie selbstverständlich sofort auch auch für uns Rucksackwanderer – Kaffee und Kuchen, Schnittchen und Rotkäppchen-Sekt. Zwei, drei kurze Reden von Vertretern der Gemeinde. Danksagungen. Beifall. Damit ist die Brücke eingeweiht. Man unterhält sich, lacht, feiert. Wir hören zu, stellen Fragen, erzählen von unserer Landpartie, sind alle angerührt von der Gastfreundlichkeit. Der nachbarschaftliche Zusammenhalt scheint stark, keine Arbeitslosigkeit, keine Abwanderung, keine Spur von Abgehängtsein. Der Abschied fällt schwer.
17:00 im Wald vor Oberschöna, auf einem Holzstapel
Wir nehmen uns Zeit für die Fortsetzung unseres – kann man sagen? -Workshops? Das bloße „wow“ taugt für den ersten spontanen Impuls. An diesem Punkt stehenzubleiben, ist jedoch nicht produktiv. Es würde ein Verharren in der Sprachlosigkeit bedeuten. Wie so vieles in den sozialen Medien auf dieser Stufe bleibt. Wie aber von diesem Nullpunkt aus weiterkommen? Ein Gedanke des Naturlyrikers (heute spricht man von „nature writing“) Oskar Loerke (1884 – 1941) scheint mir – trotz des heute ungewohnt hohen Tons – anregend:
„Ich hatte mein Erleben heimzuleiten in die Form seiner Existenz durch Sprache“ (Oskar Loerke, an Wilhelm Lehmann, 1933).
Impuls für eine Meditation und eine Gesprächsrunde im Grünen.
18:00 Weg nach Oberschöna
Die Spuren des extremen Wetterereignisses vom Wochenende sind – wie an vielen Stellen unseres heutigen Weges – sichtbar: Schlamm auf dem Weg und in breiten Streifen im Gelände. Noch eine letzte unverhoffte Begegnung: Auf der Weide oberhalb tollt ein Mädchen im Grundschulalter mit ihrem Hund herum, pflückt Kräuter für zwei Pferde, die in der Nähe grasen. Es begleitet uns ein Stück bis zu ihrem Elternhaus, erzählt lebhaft, wie sich bei dem Unwetter der Bach in einen Sturzbach verwandelte und Schlammfluten zu Tale riss. Kurz vor ihrem Haus sei das Wasser von einer Röhre abgelenkt worden. Angst? Nö, die hatte sie nicht. Ob ihre Zukunft von solchen und anderen, unvorhersehbaren Katastrophen bestimmt wird? Mir fällt eine Weisheit ein, die ich in meiner Kindheit im Kalten Kriege aufschnappte: Bangemachen gilt nicht!
21:00 Pension Ölmühle, Oberschöna
Im Tischgespräch beim Abendessen kommt die Frage auf: Wie hat das Dorf, in dem wir uns so wohl gefühlt hatten, wohl am vergangenen Sonntag bei der sächsischen Landtagswahl abgestimmt? Am nächsten Tag bekommen wir die Information: Der Stimmenanteil für die Rechten lag über dem Landesdurchschnitt. Ich spüre blankes, fassungsloses Entsetzen…
Text: Ulrich Grober
Fotos: Leonie Rhode (2,4,5); Bertram Weisshaar (1,3)